Trotz Kaloriendefizit Körperfett aufbauen? Warum das keine Illusion ist, sondern biologische Realität
- Ricokernchen1
- 7. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Die Illusion vom simplen Kaloriendefizit
In der Fitness- und Diätszene kursiert ein Grundsatz, der fast schon religiöse Züge angenommen hat: Wer weniger Kalorien zu sich nimmt, als er verbraucht, wird automatisch Körperfett verlieren. Punkt. Doch diese Annahme greift zu kurz und blendet die hormonelle, entzündliche und stoffwechselphysiologische Komplexität des menschlichen Körpers nahezu vollständig aus. Denn es gibt Situationen, in denen ein Mensch im Kaloriendefizit ist und dennoch Fett einlagert oder zumindest keinen Fettabbau erreicht.
Der Körper entscheidet nicht kalorisch, sondern hormonell
Der menschliche Organismus folgt nicht der mechanischen Logik eines Taschenrechners, sondern einem komplexen Netzwerk biochemischer und hormoneller Signale. Diese Signale entscheiden, ob zugeführte Energie überhaupt in den Zellen ankommt, ob sie zur Energiegewinnung genutzt oder direkt als Körperfett gespeichert wird. Und genau hier beginnt das Missverständnis.
Ein Kaloriendefizit ist zweifellos eine notwendige Voraussetzung für Fettabbau. Aber es ist keine Garantie. Entscheidend ist, ob der Körper in der Lage ist, gespeicherte Fettreserven überhaupt freizugeben. Und genau das kann aus verschiedenen Gründen blockiert sein.
Insulin als Blockierer der Fettfreisetzung
Ein chronisch erhöhter Insulinspiegel beispielsweise sorgt dafür, dass die Fettverbrennung blockiert wird. Insulin ist das anabolste Hormon des menschlichen Stoffwechsels, es speichert, sichert und konserviert Energie. Wenn Insulin durch ständige Mahlzeiten, versteckte Zucker oder Insulinresistenz dauerhaft erhöht ist, bleibt der Zugriff auf die Fettreserven versperrt. Selbst bei einem kalorischen Defizit ist dann kein effektiver Fettabbau möglich.
Relevante Blutparameter
Nüchterninsulin
C-Peptid
HOMA-IR
HbA1c
Cortisol: Der Stressfaktor im Energiestoffwechsel
Ein weiteres zentrales Element ist Cortisol. Dieses Stresshormon ist evolutionär dafür vorgesehen, den Organismus in Gefahrenlagen schnell mit Energie zu versorgen. Bei chronischer Stressbelastung, Schlafmangel, Fastenstress oder zu harten Diäten kommt es jedoch zur dauerhaften Erhöhung von Cortisol. Die Folge, vermehrte Glukoneogenese aus Aminosäuren (Muskelabbau), Hemmung der Schilddrüsenfunktion, Zunahme von viszeralem Fettgewebe und gleichzeitig reduzierte Thermogenese. Der Körper wechselt in den „Sicherungsmodus“, spart Energie, baut Muskulatur ab und speichert Fettreserven zur Absicherung.
Relevante Blutparameter
Cortisol (Serum oder Speichel, ideal im Tagesprofil mit 5 Messungen)
ACTH
DHEA-S
hs-CRP (Entzündung), ggf. ws-CRP (noch genauer)
Leptinresistenz: Wenn das Sättigungssignal nicht mehr ankommt
Auch das Hormon Leptin spielt eine wichtige Rolle. Leptin wird vom Fettgewebe produziert und signalisiert dem Gehirn, wie viel Energie gespeichert ist. Bei Leptinresistenz jedoch erkennt das Gehirn diese Signale nicht mehr richtig. Es interpretiert den Zustand als Energiemangel, senkt daraufhin den Grundumsatz und fördert die Fetteinlagerung. Auch Heisshunger und unkontrolliertes Essverhalten sind Folgen dieser hormonellen Fehlkommunikation.
Relevante Blutparameter
Leptin
Adiponectin
Leptin/Adiponectin-Ratio
Mitochondrien: Der stille Engpass im Stoffwechsel
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die mitochondriale Funktion. Nur wenn die Zellkraftwerke funktionieren, kann die zugeführte Energie auch tatsächlich zur ATP-Produktion genutzt werden. Störungen durch Nährstoffmangel, oxidativen Stress, Schwermetallbelastung oder Entzündungen führen dazu, dass der Körper trotz ausreichender oder gar reduzierter Kalorienzufuhr energetisch unterversorgt ist. Die Reaktion, der Stoffwechsel drosselt, die Fettverbrennung versiegt, Einlagerungsprozesse werden aktiviert.
Relevante Blutparameter
Coenzym Q10 (liposomal)
Glutathion
L-Carnitin
Lactat/Pyruvat-Quotient
Warum Frauen besonders betroffen sind
Gerade Frauen sind von diesen Prozessen besonders betroffen. Die hormonelle Regulation ist eng an den Zyklus gekoppelt und wird durch Östrogen, Progesteron und auch Androgene gesteuert. Eine Östrogendominanz, beispielsweise durch chronischen Stress, Bewegungsmangel oder die Einnahme oraler Kontrazeptiva, begünstigt die Fetteinlagerung und blockiert gleichzeitig den Muskelaufbau. Viele Frauen, die hormonell verhüten, leiden zusätzlich unter einem Progesteronmangel, der die katabolen Stresshormone weiter dominieren lässt. Auch die natürliche Thermogenese in der zweiten Zyklushälfte kann ausbleiben, wenn das endokrine Gleichgewicht gestört ist. Mit zunehmendem Alter und dem Übergang in die Perimenopause verstärken sich diese Prozesse. Der sinkende Progesteron- und Östrogenspiegel führt zu mehr Fettansammlung bei gleichzeitigem Abbau stoffwechselaktiver Muskelmasse.
Relevante Hormonparameter (Blut & Speichel)
Estradiol
Progesteron
LH / FSH
SHBG
Zyklustiming (Tag der Blutabnahme zwischen dem 19 - 21 ZT!)
Der männliche Stoffwechsel: Fett durch Testosteronmangel
Bei Männern sind es vor allem Testosteronmangel, Stress und erhöhte Aromataseaktivität (Umwandlung von Testosteron in Östrogen), die zu einer Fettzunahme trotz scheinbar richtiger Diät führen. Auch hier blockieren chronisch hohe Cortisolwerte oder ein Mangel an Zink, Vitamin D oder B-Vitaminen die Testosteronbildung und damit die Lipolyse.
Relevante Blutparameter (Blut & Speichel)
Testosteron
SHBG
Östradiol (bei Verdacht auf Aromataseaktivität)
Zink
Vitamin D (25-OH)
Vitamin B6, B12
Die entscheidende Frage: Gibt Ihr Körper Fett überhaupt frei?
Wer also Fett abbauen möchte, sollte nicht nur auf die Kalorienbilanz schauen, sondern auf die Frage: "Ist mein Organismus überhaupt bereit, Fett freizugeben?". Diese Antwort findet sich nicht auf der Waage oder in der Kalorien-App, sondern in der Analyse hormoneller und biochemischer Marker.
Gesamtliste relevanter Blut- und Hormonparameter inkl. stoffwechselrelevanter Organsysteme
Nüchterninsulin, C-Peptid, HOMA-IR, HbA1c
Cortisol-Profil, ACTH, DHEA-S, hs-CRP, ggf. ws-CRP
Leptin, Adiponectin, Leptin/Adiponectin-Ratio
Schilddrüsenwerte: TSH, fT3, fT4, rT3, TPO-Antikörper
Sexualhormone: Estradiol, Progesteron, Testosteron, SHBG, LH/FSH
Mikronährstoffe intra-/extrazellulär: Selen, Zink, Magnesium, Vitamin D, Vitamin B6/B12, Folat
Mitochondriale Marker: Q10, Glutathion, L-Carnitin, Lactat/Pyruvat-Quotient
Leberfunktion: GPT, GOT, GGT, Alkalische Phosphatase, Bilirubin, Albumin
Gallenfluss & Fettverdauung: Lipase, Gallensäuren (im Serum), Cholesterin gesamt, LDL, HDL, Triglyzeride
Nierenfunktion: Kreatinin, Cystatin C, Harnstoff, GFR (eGFR), Elektrolyte intra-/extrazellulär (Na, K, Cl, Ca, P)
Milz & Blutbildung: Hämoglobin, Hämatokrit, Ferritin, Eisen, Transferrinsättigung, Retikulozyten
Kardiovaskuläre Marker: Homocystein, Lipoprotein (a), ApoB, ApoA1, hs-Troponin, NT-proBNP
Meine Schlussfolgerung: Fettabbau beginnt nicht im Defizit, sondern im Gleichgewicht
Die im Blog dargestellten hormonellen und metabolischen Störungen, von Insulin- und Leptinresistenz bis hin zu mitochondrialer Schwäche und Cortisoldominanz, entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind oft direkte Folge gesellschaftlicher Einflüsse und alltäglicher Lebensgewohnheiten, die unser biologisches System überfordern oder aus dem Takt bringen.
Bewegungsmangel zählt zu den größten unterschätzten Faktoren. Schon wenige Tage ohne körperliche Aktivität reichen aus, um die Insulinsensitivität zu senken und die mitochondriale Funktion zu beeinträchtigen. Wer sich wenig bewegt, verbrennt nicht nur weniger Fett, er signalisiert dem Körper auch: „Energie sparen, nicht freigeben.“ Die Folge: Fett wird eher gespeichert als genutzt.
Auch chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Endometriose oder hormonelle Syndrome wie PCOS (Polyzystisches Ovarialsyndrom) führen zu einem dauerhaften Ungleichgewicht im Hormonsystem. Erhöhtes Insulin, überschüssiges Östrogen, ein Mangel an Progesteron oder andauernde Entzündung verstärken das metabolische Chaos und fördern, auch bei normalem Essverhalten, die Einlagerung von Körperfett.
Psychischer Dauerstress ist ein weiterer zentraler Störfaktor. Ob durch Arbeit, soziale Medien, Konflikte, unerfüllte Erwartungen oder Perfektionsdruck: Dauerhafte Cortisolausschüttung verändert die Appetitregulation, stört den Schlaf und hemmt die Schilddrüsenfunktion. Selbst wer wenig isst, kann dadurch Fett einlagern, insbesondere im Bauchraum.
Auch die Regeneration wird häufig vernachlässigt. Zu kurze Nächte, fehlende Pausen, reizüberflutete Tage und das ständige „online sein“ führen dazu, dass der Parasympathikus, der Teil des Nervensystems, der für Erholung, Verdauung und Aufbau zuständig ist, dauerhaft unterdrückt bleibt. Der Körper bleibt im Stressmodus gefangen. Und dieser Modus kennt nur ein Ziel: Energie zurückhalten und speichern.
Diese Zusammenhänge sind nicht immer sofort offensichtlich, doch sie erklären, warum ein rein kalorischer Ansatz nicht ausreicht. Und genau deshalb ist mein Blick auf das hormonelle, neuroendokrine und alltagsbedingte Gesamtbild meiner Klientinnen und Klienten so zentral. Ich sehe in meinen tiefgehenden Analysen immer wieder diese Korrelationen. Hinter scheinbar einfachen Symptomen stecken oft komplexe Wechselwirkungen, die verstanden und individuell begleitet werden müssen.
Fettabbau beginnt nicht im Defizit, sondern im Gleichgewicht. Wer das verstanden hat, erkennt:
Nicht jede Diät ist sinnvoll, nicht jede Kalorie gleich, und nicht jedes Defizit ein Fortschritt. Sondern oft ein Alarmsignal des Körpers, der eigentlich um Hilfe ruft.
Aktuelle Studienergänzung
Zwei neuere wissenschaftliche Arbeiten belegen zusätzlich, wie stark mitochondriale Funktion und Insulinsensitivität den Fettabbau beeinflussen.
Mitochondriale Dysfunktion trotz Defizit
Eine 2024 in Nature Metabolism erschienene Studie an Mäusen (!) zeigt, dass gestörte Mitochondrien in weißen Fettzellen durch strukturelle Fragmentierung den Fettabbau behindern. Trotz gleichbleibender Kalorienzufuhr wurde weniger Fett oxidiert und mehr gespeichert, ein klarer Hinweis darauf, dass Stoffwechselprozesse über die reine Bilanz hinaus entscheidend sind.
(Quelle: Wang et al., 2024 – Nature Metabolism)
Insulinresistenz verändert die Fettverwertung bei Diäten
Eine Studie von 2022 untersuchte insulinresistente Menschen unter Kaloriendefizit. Ergebnis: Sie verloren im Vergleich zu insulin-sensitiven Probanden signifikant weniger Körperfett, dafür aber mehr Muskelmasse, trotz identischer Energiezufuhr.
(Quelle: Veri Research Team, 2022)
Quellen
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Hotamisligil, G. S. (2006). Inflammation and metabolic disorders. Nature, 444 (7121), 860 - 867. https://doi.org/10.1038/nature05485
Lustig, R. H. (2006). Childhood obesity: behavioral aberration or biochemical drive? Reinterpreting the First Law of Thermodynamics. Nature Clinical Practice Endocrinology & Metabolism, 2 (8), 447 - 458. https://www.nature.com/articles/ncpendmet0220
Ahima, R. S., & Flier, J. S. (2000). Leptin and the neuroendocrinology of fasting. Annual Review of Physiology, 62, 413 - 437. https://doi.org/10.1146/annurev.physiol.62.1.413
Kershaw, E. E., & Flier, J. S. (2004). Adipose tissue as an endocrine organ. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, 89 (6), 2548 - 2556. https://doi.org/10.1210/jc.2004-0395
Tsigos, C., & Chrousos, G. P. (2002). Hypothalamic–pituitary–adrenal axis, neuroendocrine factors and stress. Journal of Psychosomatic Research, 53 (4), 865 - 871. https://doi.org/10.1016/S0022-3999(02)00429-4
Wallace, D. C. (2005). A mitochondrial paradigm of metabolic and degenerative diseases, aging, and cancer: a dawn for evolutionary medicine. Annual Review of Genetics, 39, 359 - 407. https://doi.org/10.1146/annurev.genet.39.110304.095751
Wang, Y. et al. (2024). Mitochondrial fragmentation in adipocytes impairs fat oxidation. Nature Metabolism. https://www.nature.com/articles/s42255-024-00978-0
Veri Research (2022). Insulin resistance alters fat and muscle mass loss under caloric restriction. Veri Journal. https://www.veri.co/learn/insulin-resistance-and-weight-loss

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