Vitamin D: Mythen, Mechanismen und Missverständnisse
- Ricokernchen1
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Einführung: Vitamin D - mehr als ein Sonnenvitamin
Vitamin D wird oft als Sonnenvitamin bezeichnet, doch biochemisch betrachtet handelt es sich um ein Prohormon mit weitreichenden Wirkmechanismen im gesamten Organismus. Neben seiner Rolle für den Calciumstoffwechsel beeinflusst es Immunantworten, Zellteilung, Hormonregulation und entzündliche Prozesse. Ziel dieses Beitrags ist es, verbreitete Mythen zu entkräften und die komplexe Wirkweise von Vitamin D im Zusammenspiel mit Co-Faktoren, Licht und Hormonachsen verständlich zu machen.
Sonnenlicht als Vitamin-D-Quelle - nur unter Idealbedingungen
Viele Menschen glauben, ein Spaziergang an der Sonne reiche zur Versorgung mit Vitamin D aus. Doch damit die Haut überhaupt Cholecalciferol (D3) bilden kann, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
UVB-Strahlung im Bereich 290 bis 315 nm
Sonnenstand im Zenit, also zwischen 11 und 13 Uhr
Zeitraum zwischen Mai und August in Mitteleuropa
mindestens 20 bis 25 Prozent unbedeckte Haut
keine Sonnencreme, keine Kleidung, keine Fensterscheiben
Ein alltagstaugliches Beispiel: Wer in Deutschland im Oktober mit langärmliger Kleidung mittags spazieren geht, erreicht keine relevante Vitamin-D-Synthese – auch wenn die Sonne scheint. Wer in Deutschland im Juni bei strahlendblauem Himmel, nur mit Hut, ärmellosem Shirt und kurzen Hosen um 11:30 - 12:10 Uhr ein Sonnenbad nimmt, schiebt die Synthese für die D3-Bildung an.
Sonnenbrille, Netzhaut und das neuroendokrine Lichtsignal
Weniger bekannt ist, dass nicht nur die Haut, sondern auch das Auge eine wichtige Rolle bei der Regulation der Vitamin-D-Synthese spielt.
Wenn Licht auf die Netzhaut trifft, wird über den suprachiasmatischen Nukleus im Gehirn ein Signal zur Regulierung des zirkadianen Rhythmus gesendet. Dieses Signal beeinflusst unter anderem hormonelle Kaskaden, die für die Umwandlung von Cholecalciferol zu seiner aktiven Form mitverantwortlich sind.
Wer also bei Mittagssonne Sonnenbrille trägt, blockiert nicht nur UV-Strahlung, sondern auch wichtige neuroendokrine Steuerungsimpulse. Zudem kann auch hier eine Gefährdung liegen, da die geweiteten Pupillen vermehrt UV-Strahlen empfangen, wenn die Sonnenbrille nicht ausreichend UV-Schutz bietet!
Die biochemische Aktivierung: Von Cholecalciferol zu Calcitriol
Das über die Haut oder Nahrung aufgenommene Vitamin D liegt zunächst in inaktiver Form vor. Erst in zwei enzymatischen Schritten wird es biologisch aktiv:
In der Leber: Hydroxylierung zu 25(OH)D (Calcidiol)
In der Niere: weitere Hydroxylierung zu 1,25(OH)2D (Calcitriol)
Diese Umwandlung ist magnesiumabhängig. Liegt ein Magnesiummangel vor, kann es trotz ausreichender Supplementierung zu einem funktionellen Vitamin-D-Mangel kommen. Auch Zink und Bor sind als Kofaktoren beteiligt.
Wichtige korrelierende Blutwerte:
25(OH)D (Zielwert: 50–100 ng/ml)
1,25(OH)2D
Magnesium (optimal: > 0,85 mmol/l im Serum)
Zink (im Vollblut)
Bor (selten standardisiert erhoben)
Calcitriol: Das hormonaktive Signal mit weitreichender Wirkung
Calcitriol, die hormonaktive Form, bindet an den Vitamin-D-Rezeptor (VDR), der in nahezu allen Körperzellen vorkommt. Dies führt zur Genaktivierung und beeinflusst unter anderem:
die Calciumaufnahme im Darm (via TRPV6, Calbindin, PMCA1)
die Immunmodulation (TH1/TH2-Verhältnis, Treg-Zellen)
antioxidative Schutzsysteme
die Insulinempfindlichkeit
Zellwachstum und Differenzierung
Ein praktisches Beispiel: Menschen mit Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto oder Multipler Sklerose profitieren oft von einer optimierten Calcitriolwirkung, da entzündliche Immunreaktionen moduliert werden.
Die Rolle von Vitamin K2 - differenziert betrachtet
Vitamin K2, vor allem in der Form MK-7, aktiviert Calcium-bindende Proteine:
Osteocalcin fördert die Einlagerung von Calcium in die Knochen
Matrix-GLA-Protein (MGP) verhindert Verkalkungen in Gefäßen und Weichteilen
K2 ist nicht notwendig für die Aktivierung von Vitamin D, sondern für dessen sichere Wirkung auf den Calciumstoffwechsel.
Besonders relevant wird K2 bei:
Einnahme von über 4000 I.E. Vitamin D täglich
chronisch-entzündlichen Zuständen
Übersäuerung oder Schilddrüsenüberfunktion
Osteomalazie, da hier die Knochenstruktur durch unzureichende Mineralisierung geschwächt wird
Wichtiger Hinweis zur Osteoporose:
Bei Osteoporose steht nicht die Mineralisierung, sondern der Abbau kollagener Knochenmatrix im Vordergrund. Entscheidend ist hier insbesondere Vitamin C, das für die Kollagensynthese benötigt wird. Vitamin D und K2 können unterstützend wirken, doch die alleinige Gabe von Calcium und Vitamin D reicht häufig nicht aus, um den Knochenstoffwechsel bei Osteoporose zu stabilisieren. Eher gegenteilig, denn der bereits, durch Kollagenverlust, steifer werdende Knochen wird durch mehr Calcium wie ein Stück Kreide und die Bruchgefahr durch eine hohe calciumbedingte Verdichtung wirkt entsprechend negativ.
Vitamin A - der oft vergessene Synergiepartner
Retinol, die aktive Form von Vitamin A, wirkt antioxidativ, reguliert Genexpression und beeinflusst die Vitamin-D-Wirkung über VDR-Modulation. Wie auch beim Vitamin D liegt in nahezu jeder Zelle des Körpers auch ein Vitamin A-Rezeptor zur Aktivierung vor. Besonders unter UV-Exposition schützt es Haut und Zellkerne vor oxidativem Stress.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Menschen mit sehr trockener Haut, Ekzemen oder starker Lichtempfindlichkeit profitieren oft von einer kombinierten Supplementierung mit Vitamin D und A.
Magnesium - unverzichtbar für die Aktivierung von Vitamin D
Magnesium ist als Kofaktor essenziell für die Hydroxylierung von Vitamin D in Leber und Niere. Bei starkem Mangel entsteht eine Vitamin-D-Resistenz. Der Organismus priorisiert seine Vorgänge und Abläufe, bei einem Magnesiummangel wird der Körper immer die hormonmodulierende Kaskade der Vitamin D Aktivierung vorziehen. Diese Vorgehen ist bis zu einem gewissen Grad auch konstant, es wird für andere Funktionen dann "abgezogen" und magnesiumabhängige Mangelsymptome entstehen.
Symptome eines latenten Magnesiummangels können sein:
Muskelzucken
Nervosität
Schlafstörungen
Herzrhythmusstörungen
Wichtige Blutwerte:
Magnesium im Serum (> 0,85 mmol/l)
Magnesium im Vollblut (aussagekräftiger bei intrazellulärer Beurteilung)
Der Mythos „Vitamin D = mehr Calcium“, eine Klarstellung
Nicht die Zufuhr von Cholecalciferol erhöht die Calciumaufnahme, sondern die hormonelle Aktivierung zu Calcitriol, also die hormonell aktive Form.
Calcitriol wirkt im Darm, indem es Transportproteine hochreguliert. Dies geschieht jedoch nur, wenn folgende Bedingungen gegeben sind:
ein bestehender Calciummangel
ein erhöhtes Parathormon (PTH)
ausreichende Mengen an aktivem Vitamin D
keine Nierenerkrankung
Wichtige korrelierende Blutwerte:
25(OH)D
1,25(OH)2D
ionisiertes Calcium
Parathormon (PTH)
Phosphat
Laborwerte sinnvoll interpretieren und was wirklich zählt
Ein hoher 25(OH)D-Wert im Blut heißt nicht automatisch, dass auch viel aktives Vitamin D im Körper wirksam ist. Entscheidend ist die Umwandlung zu Calcitriol und dessen Rezeptorbindung.
Empfohlene Laborparameter für eine sinnvolle Diagnostik:
25(OH)D: Speicherform (Ziel: 50–100 ng/ml)
1,25(OH)2D: Hormonform
freies 1,25(OH)2D: ungebundene Anteile des D-Hormons
Magnesium, Calcium, Phosphat - (Serum und Vollblut)
Parathormon
ideal: Retinol, Zink, Bor, Vitamin K2 (indirekt über dp-ucMGP)
Vitamin C (z. B. Ascorbinsäure im Vollblut, bei Osteoporoseverdacht)
Empfehlungen für Ihre Praxis, wissenschaftlich fundiert und ganzheitlich
Messen Sie regelmäßig Ihren 25(OH)D-Spiegel
Supplementieren Sie individuell: D3, K2, Magnesium, ggf. A, C und Calcium
Achten Sie auf Tageszeit, Jahreszeit und Hautbedeckung bei Sonnenexposition
Vermeiden Sie dauerhaft das Tragen von Sonnenbrillen im Freien
Überwachen Sie Ihre Blutwerte, wenn Sie hochdosiert supplementieren
Fazit: Zwischen Sonnenlicht, Supplement und Signal, was wirklich zählt
Vitamin D ist kein einfaches Nahrungsergänzungsmittel, sondern ein Teil eines komplexen hormonellen Netzwerks. Nur mit dem richtigen Verständnis der Zusammenhänge zwischen Licht, Nahrung, Kofaktoren und Laborwerten gelingt eine sinnvolle Nutzung. Ein bisschen Sonne reicht eben nicht. Wohl aber ein informierter Umgang mit den biologischen Prozessen.
Quellen
Holick MF. (2007). Vitamin D deficiency. N Engl J Med.
Libon F et al. (2013). Cutaneous Vitamin D synthesis: a critical review. Eur J Dermatol.
Wacker M, Holick MF. (2013). Sunlight and Vitamin D. Dermatoendocrinol.
DeLuca HF. (2004). Overview of vitamin D functions.
Norman AW. (2008). From vitamin D to hormone D.
Schurgers LJ, Vermeer C. (2000). Vitamin K2 and cardiovascular health.
Theuwissen E et al. (2012). Vitamin K status and bone health.
Gaby AR. (2021). Nutritional Medicine. Kapitel: Vitamin K, Vitamin C.
Institute of Medicine (2011). Dietary Reference Intakes for Calcium and Vitamin D.

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